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Ur-Cypherpunk Tim May ist gestorben

Tim May (links) und die Cypherpunk-Mitgründer Eric Hughes und John Gilmore.

Am Wochende ist Tim May verstorben. Kaum jemand hat sich so früh mit digitalem Bargeld beschäftigt wie der Mitgründer der Cypherpunk-Bewegung. Er fand Bitcoin großartig, beäugte den Verlauf der Kryptowährung aber eher kritisch.

„Mich erreichte die Nachricht, dass mein lieber Freund Tim May, Mitverschwörer in vielen Dingen für viele Jahre, und mein Gefährte im Kampf für die Freiheit, in dieser Woche in seinem Haus in Corralitos, Kalifornien, verstorben ist,“ gibt ein Lucky Green auf Facebook bekannt. „Die Todesursache waren natürliche Umstände, auch wenn die Autopsie noch aussteht. Tim ist nicht in einem Kugelhagel gestorben, wie so viele es erwartet hätten, die ihn nicht selbst, sondern vor allem durch seine Schriften kannten.“

Tim May war ein Mitgründer der Cypherpunk-Bewegung. Er ist eines der Urgesteine der geistigen Schichten, aus denen Bitcoin heraus entstanden ist. Vieles, was heute die Diskussionen über das Internet und digitales Bargeld prägt, geht auf das zurück, was May schon in den 90ern erörtert hat.

Cypherpunks: Im Auge des Hurricans

May, der Sohn eines Marine-Offizieres, wuchs erst in Washington, dann an der Ostküste der Staaten auf. Er hat schon als Teenager seine Liebe zu Feuerwaffen entdeckt, schreibt Thomas Rid in seinem Buch „The Rise of the Machines.“ Er beschäftigte sich früh mit Kryptographie und ließ sich dabei auch von Science-Fiction inspirieren, etwa dem berühmten Autor Vernor Vinge. Als Ingenieur bei Intel hatte er genügend Geld verdient, um in seinen frühen 40ern nicht mehr auf Erwerbsarbeit angewiesen zu sein, und sich stattdessen seinen eigenen Interessen und Studien widmen zu können. Dabei war er besessen von einem typisch amerikanischen Individualismus und Willen zur Freiheit.

Gemeinsam mit Eric Hughes und John Gilmore veranstaltete er Anfang der 90er Jahre Treffen in einem Bürogebäude in San Franzisco, um sich über Kryptographie, das Internet, Politik und Freiheit zu unterhalten. Diese Gruppe wurde rasch als „Cypherpunks“ berühmt. Aus den Treffen entstand die legendäre Cypherpunk-Mailingliste, über die hunderte von Menschen auf der ganzen Welt über Themen diskutierten, die in dieser Zeit noch futuristisch waren, aber heute den Alltag des digitalen Lebens prägen. Es gibt um das Internet, Freiheit, Privatsphäre, Gesetze, Politik, Wirtschaft und Geld. Darum, wie das Leben im elektronischen Zeitalter sein wird.

Die faszinierenden Diskussionen dieser Mailing-List sind in Online-Archiven enthalten, die bis heute eine exzellente historische Quelle für Kryptographie und die Frühzeit des Internets sind. Tim May beschrieb diese Tage einige Jahre später so: „In dieser Zeit wurde viel über Kryptographie, Schlüssel-Treuhänder, das Netz, die Datenautobahn, Cyberterroristen und Kryptoanarchie geschrieben. Wir fanden uns selbst im Auge eines Hurricanes wieder“. Diese Notiz stammt aus seinem 1994 online veröffentlichten Buch Cyphernomicron.

Das Cyphernomicron mischt Kryptographie, Kultur und Politik auf eine damals und heute einzigartige Weise. Es erzählt die Geschichte der Cypherpunks, beschreibt Technologien wie PGP, E-Mail-Remailer sowie deren Konsequenzen für Recht, Überwachung, Reputation und mehr. Mit diesem Werk und vielen weiteren Schriften wurde May zu einem radikal individualistischen und libertären Philosophen, dem es wie keinem anderen gelang, Informationstechnologie und Politik zusammenzubringen. Er griff eine Geisteshaltung auf, die im Silicon Valley dieser Zeit enstand, und fasste sie in klare Worte, welche die politische Haltung ganzer Generationen von Informatikern prägen sollten.

Schonungslos, aber begeistert

Es zeichnet die Schriften von May aus, dass er sämtliche Konsequenzen der von „Kryptoanarchie“ genannten Zukunft schonungslos benannte: „Und viele von uns, die über das Thema Kryptoanarchie nachgedacht haben, waren entsetzt über die Folgen, die unvermeidlich erscheinen“, so May in einem 1994 veröffentlichen Paper. Er prophezeite, dass der Staat versuchen werde, die Kryptoanarchie zu verhindern, und sich dabei auf „Gründe der nationalen Sicherheit“ berufen werde, wie die Bekämpfung von Drogenhandel und Steuerflucht oder, abstrakter, der sozialen Desintegration. Viele dieser Sorgen seien, so May in seinem berühmten „Manifest der Krypto-Anarchisten„, berechtigt: „Kryptoanarchie wird es ermöglichen, dass Staatsgeheimnisse, verbotene Waren und Diebesgut gehandelt werden. Ein anonymer computerbasierter Markt wird es sogar möglich machen, dass abscheuliche Marktplätze entstehen für Erpressung und Auftragsmorde.“

Die hohe Kunst von May war es, sich aller Probleme von dem, was er „Kryptoanarchie“ nannte, bewusst zu sein – aber zugleich dennoch unerbittlich an ihr als seiner Utopie festzuhalten. Er schreibt in seinem Manifest: „Computertechnologie ist im Begriff, Individuen und Gruppen die Möglichkeit zu geben, in einer absolut anonymen Weise zu kommunizieren und zu interagieren. Zwei Personen können Nachrichten austauschen, Geschäfte erledigen und elektronische Verträge aushandeln ohne ihren echten Namen, ihre rechtliche Stellung und anderes zu wissen … “ Wie die Erfindung des Stacheldrahtes es möglich gemacht hat, Farmen und Ranches zu umzäunen, werden die Entdeckungen der Kryptographie „den Stacheldraht um geistiges Eigentum abbauen.“ Dann setzt May zu seinem berühmt gewordenen Schlusssatz des Manifestes an: „Erwachet, ihr habt nicht mehr zu verlieren als eure Zäune aus Stacheldraht.“

May hatte schon in den 90ern vorausgesagt, dass es ein digitales Bargeld geben werde, und dass es eine Art Schlüssel zur Kryptoanarchie sein werde. Die Technologien dazu waren da. In der Cypherpunk-Mailingliste beobachtete und kommentierte er jeden Versuch, ein solches Bargeld zu schaffen. Als sich Ende der 90er noch immer keine Variante davon etabliert hatte, konstatierte er etwas frustriert: „Zehn Jahre und noch immer kein nützliches digitales Bargeld. Ich schrieb mein Cryptoanarchist Manifesto vor beinah elf Jahren. Ich traf Chaum 1988. Ich wusste, digitales Bargeld würde nicht so schnell kommen, aber ich hatte nicht erwartet, dass mehr als zehn Jahre später noch immer nichts Nützliches da sein würde.“

„Der größte Hype, den ich je gesehen habe.“

Als mit Bitcoin endlich ein digitales Bargeld zur Erfolgsgeschichte wurde, beobachtete May es aufmerksam, ohne sich deutlich in die Diskussion und Entwicklung einzubringen. In einem Interview mit Coindesk vor einigen Monaten kommentierte er die Geschichte von Bitcoin und Kryptowährungen launisch. Auf der einen Seite nennt er Bitcoin „die vielleicht wichtigste Entwicklung seit der Entwicklung der doppelten Buchführung.“ Er meint auch, dass Bitcoin das macht, was es machen sollte – Werte zu überweisen.

Auf der anderen Seite betrachtet er vieles, was passiert, mit großer Skepsis. „Ich kann nicht sagen, was Satoshi vorhatte, aber ich denke, es ging nicht darum, dass Börsen drakonische KYC-Regeln haben und Accounts einfrieren.“ Er fürchtet, dass die Transparenz von Bitcoin in Verein mit der Aufsicht der Börsen zu einem Überwachungsstaat führen kann. Auch die große Verwirrung auf den Märkten behagt ihm nicht. „Was ich sehe sind hunderte von Millionen in Programmierfehlern, Diebstählen, Betrügereien und Initial Coin Offerings auf Basis von windigen Ideen …“ Satoshi habe eine brillante Idee verwirklich, aber „der Narrative ist abgeschmiert.“ Kryptowährungen seien zum größten „Hype-Wagon“ geworden, den er jemals gesehen habe.

Über Christoph Bergmann (2796 Artikel)
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2 Kommentare zu Ur-Cypherpunk Tim May ist gestorben

  1. „Er fürchtet, dass die Transparenz von Bitcoin in Verein mit der Aufsicht der Börsen zu einem Überwachungsstaat führen kann“

    niedlich!
    wahrscheinlich wieder nur dem begünstigenden zufall geschuldet, dass irgendeine ominöse figur namens satoshi mit einer genialen idee zum rechten zeitpunkt für die zwingherren auftaucht. logischerweise ist bzw wird die offizielle crypto währung der einzelnen zentralbanken der wahrgewordene und feuchteste aller feuchten träume der staatsschmarotzenden neurotiker sein!
    aber wie gesagt, alles wie üblich nur zufall, denn es kann ja nicht sein was nicht sein darf 😉

  2. Erfrischender Beitrag zur Cryptogeschichte. May May rest in Peace!

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