Newsticker

Der Binokel und die Herrschaft über eine Kryptowährung

Wer hat das Sagen im Reich einer Kryptowährung? Einen zentralen Herrscher gibt es nicht – aber Parteien, die Einfluss ausüben und in gegenseitiger Abhängigkeit stehen. Die Entwickler nehmen in diesem Ökosystem eine sehr spezielle Rolle ein.

Kein CEO, kein Kanzler, kein Generalsekretär: Wer versucht, das zentrale Oberhaupt einer Kryptowährung zu finden, wird scheitern. Für viele ist das verwirrend – man ist es ja gewohnt, dass es überall jemanden gibt, der in letzter Instanz die Kontrolle hat. Wenn kein Kaiser, Präsident oder Geschäftsführer, dann eine Gruppe oder ein Gremium, irgendeine Art von Organisation, die hierarchisch so geordnet ist, dass es einen Weg gibt, strukturiert Kontrolle auszuüben. Bei Bitcoin – und den anderen echten Kryptowährungen – gibt es dies nicht. Es gibt keinen König, und dennoch funktioniert es.

Man könnte (und sollte) das feiern. Ein System, in dem es keinen Herrscher gibt, gehört niemandem – und damit allen. Wenn keiner einen Zaun darum bauen oder es nach seinem Gutdünken ändern kann, kann jeder darauf zugreifen. Die „Erlaubnisfreiheit“ (permissionless) gerinnt aus den ganz speziellen Eigenschaften von Bitcoin und ist ein zentraler – wenn nicht DER zentrale – Punkt. Das Ding, um das es geht, und ohne dass alles andere nichts wäre.

Der Kreislauf der Parteien

Aber es wäre auch zu kurz gegriffen, bei dieser Feier stehenzubleiben. Denn es gibt bei Bitcoin durchaus Gruppen, die Einfluss ausüben können, indem sie eine Leistung erbringen, die Bitcoin, das System, benötigt. Das sind, grob skizziert, die folgenden Parteien:

Miner: Sie stellen Bitcoins her und sichern die Folge der Transaktionen. Bei Bitcoin dürfte Bitmain weiterhin der einflussreichste Miner sein, wobei sich die Gruppe der Miner im Lauf der letzten ein bis zwei Jahre massiv dezentralisiert hat.
Investoren: Sie geben Bitcoin erst einen Wert. Zu den Investoren gehören Privatpersonen, die Bitcoins halten oder regelmäßig kaufen, Vermögensverwalter, Fonds, Stiftungen und die Wale, die Bitcoins in großen Mengen, meist aus alter Zeit, halten.
User: Sie machen Bitcoin lebendig, indem sie es benutzen. Die Gruppe der User dürfte am diffusesten sein. Im Prinzip sind zwar auch Investoren User, aber hier sind eher diejenigen gemeint, die Bitcoins verwenden, um Geld zu versenden oder zu empfangen, wofür auch immer.
Unternehmen: Sie stellen die Infrastruktur bereit, die die User brauchen. Die wichtigsten Unternehmen dürften Börsen und alle Plattformen sein, bei denen man Bitcoins kaufen kann. Aber auch Zahlungsdienstleister, Wallet-Hersteller und Blockexplorer sind für das reibungslose Funktionieren von Bitcoin unersetzbar.
Entwickler: Bitcoin ist Code. Wenn es niemanden gibt, der den Code pflegt, hat er keine Zukunft. Daher tragen die Open-Source-Entwickler – bei Bitcoin vor allem Core – erheblich zum Fortbestand von Bitcoin bei. Sie arbeiten in der Regel freiwillig und mandatlos an Bitcoin.

Wenn ich hier Bitcoin schreibe, dann nur der Verständlichkeit wegen. Tatsächlich trifft all dies ebenso auf die meisten Kryptowährungen zu. Die beteiligten Parteien bilden ein Ökosystem, in dem Einfluss und Kontrolle nicht durch formale Hierarchien und Kontrolle ausgeübt wird, sondern in dem mehrere Gruppen ezentral durch ökonomische Beziehungen verbunden sind: Jede erbringt eine Leistung und erhält dafür eine Gegenleistung. Dieses Geben und Nehmen setzt sie in Abhängigkeit von den anderen Parteien im Ökosystem – und von dessen Funktionieren insgesamt.

Man könnte das durch einem Kreislauf darstellen, etwa so:

Wir folgen dem Kreislauf im Uhrzeigersinn:

Die Miner sichern das Netzwerk, indem sie die Transaktionen an die Blockchain anhängen. Um dies zu können, müssen sie massiv in Hardware und Strom investieren. Im Gegenzug erhalten sie einen Block-Reward sowie die Transaktionsgebühren. Ihr Einkommen hängt davon ab, dass Investoren ihre Coins kaufen und Bitcoin einen Wert geben.
Investoren brauchen User. Welchen Wert hat eine Währung, die keiner benutzt? Ein deutlicher Anteil der Bewertung von Bitcoin hängt daran, dass es von immer mehr Menschen als Geld benutzt wird.
Die User wiederum benötigen Unternehmen, die die Infrastruktur bereitstellen, um Bitcoin zu benutzen: Börsen, Wallets, Blockexplorer und so weiter. Wenn es diese Unternehmen nicht gibt, wird es schwer bis unmöglich, Bitcoins zu benutzen.
Diese Unternehmen schließlich sind davon abhängig, dass die Miner ein sicheres Netzwerk gewährleisten. Sie leiden als erstes darunter, wenn es wie bei Bitcoin Gold oder Ethereum Classic zu 51-Prozent-Angriffen kommt, was man damit übersetzen könnte, dass die Miner ihre Leistung verweigern.

Sicherlich könnte man dem noch weitere Beziehungen hinzufügen, etwa Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Minern und Usern oder Investoren und Unternehmen. Das Ökosystem ist stark verflochten. Jede Partei erbringt eine Leistung, die für den Erhalt von Bitcoin unverzichtbar ist – während sie gleichzeitig davon abhängig ist, dass die anderen Gruppen ebenfalls ihre Leistung erbringen. Eigentlich ist es ein perfekter Markt: Es gibt ausschließlich ökonomische Beziehungen; Politik, Ideologie oder Sympathien mögen effektiv einen Einfluss auf der Mikro-Ebene der individuellen Entscheidungen haben, doch ein Feedback des Ökosystems macht die Effizienz jedes Handelns messbar. Ein Akteur, der gegen ökonomische Prinzipien verstößt, wird damit bestraft, dass er an Einfluss verliert.

Es geht nicht darum, dass die einzelnen Akteure nicht irren können. Das Bitcoin-Ökosystem ist voll von Akteuren, die sich irren. Das beste Beispiel ist Bitmain, dass sich erst mit dem massiven Investment in Bitcoin Cash, dann mit der Hardfork im November zweifach selbst ins Knie geschossen hat. Das Handeln war von Politik und Sympathie anstatt Ökonomie getrieben; die Folgen sind, dass die Firma an Einfluss verliert. Das Ökosystem selbst tendiert immer dazu, den Akteuren, die im Rahmen der Aufgaben des Ökosystems die meiste Leistung bringen, innerhalb ihrer Gruppe mehr Einfluss zu verleihen. Es reguliert sich selbst.

Wer nichts bekommt, ist unabhängig

Aus diesem Schema stechen jedoch die Entwickler heraus, die an Bitcoin und anderen Kryptowährungen als Open-Source-Projekt arbeiten. In der Regel sind Open-Source-Entwickler Könige: Das Produkt ist der Code, und sie entscheiden, was mit diesem Code passiert. Bitcoin ist jedoch nicht nur Code, sondern ein Ökosystem – und die Entwickler sind kein vollständiger Teil davon.

Zunächst erbringen die Entwickler eine extrem wichtige Leistung: Sie reparieren Bugs und entwickeln die Software weiter. Es gibt zwar Beispiele von Coins, die fortleben (oder -siechen), obwohl die Entwickler-Aktivität beinah vollständig eingeschlafen ist (etwa Auroracoin oder Megacoin). Aber das künftige Potential einer Kryptowährung ist überschaubar, wenn sie keine aktiven Entwickler hat.

Allerdings erhalten die Entwickler keine Gegenleistung für ihren Beitrag. Das unterscheidet sie von den anderen Parteien im Ökosystem. Open-Source-Entwickler arbeiten umsonst. Dies wird oft als Problem wahrgenommen, etwa wenn den Entwicklern von Ethereum Classic das Geld ausgeht, oder der Chefentwickler von Grin kaum die Mittel zusammenbringt, um den technisch äußerst anspruchsvollen Coin fortzuentwickeln. Auch Bitcoin-Entwickler wie Luke Dashjr oder Bitcoin-Cash-Entwickler wie Amaury Sechet beklagen sich immer wieder darüber, dass sie so wenig Einkünfte für ihre Arbeit bekommen. Es gibt Experimente, etwa bei Dash oder Zcash, einen Teil der Mining-Einkünfte auf die Entwickler umzulegen. Dies allerdings wirkt wie ein künstlicher Eingriff in die Beziehungen im Ökosystem, da es nicht die Abhängigkeiten und Feedback-Schleifen reproduziert, die natürliche ökonomische Beziehungen ausmachen.

Open-Source-Entwickler stehen in keiner vollständigen ökonomischen Beziehung zu den anderen Parteien im Ökosystem. Natürlich können sie auch Investoren oder User sein oder für Miner und Börsen arbeiten. In diesen Fällen nehmen sie aber die Beziehungen von Investoren, Usern, Minern oder Börsen ein. An sich, als Entwickler, haben sie keine eigenständige volle Rolle im Ökosystem einer Kryptowährung. Sie sind eher wie eine Wohltätigkeits- oder Nichtregierungsorganisation – sie geben eine Leistung, erhalten dafür aber nichts. Dies macht sie unabhängig, weil es ihnen erlaubt, sich über ökonomische Zwänge hinwegsetzt. Wer etwas annimmt, ist schon nicht mehr ganz frei.

Der Binokel im Ökosystem

Man könnte die Entwickler mit dem „Binokel“ im gleichnamigen Kartenspiel vergleichen. Bei diesem Spiel bekommt man für bestimmte Kartenkombinationen Punkte: Familien und Paare in jeder Farbe, Kreuz (Eichel), Schippen (Blatt), Herz, Bollen (Schellen), sowie „Gesichter“ – Ass, König, Damen, Bube – in jeder Farbe. Alles ganz gleichmäßig und logisch. Nur der Binokel sticht heraus: Wenn man eine Schippen-Dame und einen Bollen-Buben hat, kann man 40 Punkte melden, wenn man sie doppelt hat, 300 – was schon ziemlich viel ist.

Der Binokel fügt sich nicht in die geordneten Beziehungen der Karten. Wie der Joker in anderen Spielen ist er ein Element des Zufalls, des Sich-Hinwegsetzens über das Einerlei der üblichen Regeln. Ohne ihn wäre das Spiel langweilig, und auf eine seltsame Weise schafft er Stabilität, indem er das System davor bewahrt, unter der Monotonie zusammenzubrechen.

Man könnte nun sagen, dass die Entwickler bei Kryptowährungen wie der Binokel sind: Sie sind frei von ökonomischen Zwängen und nicht in diesen Kategorien berechenbar. Sie können über den Tellerrand der kurzfristigen Gewinne hinausblicken und sich erlauben, das System nicht rein-ökonomisch zu beurteilen, sondern auch externe Faktoren, wie die Ökologie, oder idealistische Werte, wie Dezentralisierung und Privatsphäre, zu berücksichtigen.

Die Folgen davon kann man fast überall erkennen: Der Weg von Bitcoin, über Offchain-Verfahren zu skalieren, der Wechsel des Proof-of-Works bei Monero, der langsame Umbau zu Proof-of-Stake bei Ethereum, die Hardfork von Bitcoin Cash – Entwickler überraschen das Ökosystem immer wieder mit Entscheidungen, die an sich nicht direkt ökonomisch begründbar sind. Dass sie sich damit durchsetzen – zum Teil auch gegen den Widerstand des Ökosystems – zeigt, wie hoch ihr Einfluss ist, obwohl sie kein vollständiger Teil des Ökosystems sind. Eventuell sind sie gerade deswegen so einflussreich – weil sie unabhängig sind.

Interne Hierarchien

Gleichzeitig hat die Freiheit von ökonomischem Beziehungen auch einen Effekt nach innen: auf die interne Struktur der Gruppe „Entwickler“, sowie die Weise, wie sie als Partei zu einer Entscheidung kommt und diese ausführt. Wie kam es, dass Bitcoin Core auf Offchain-Skalierung setzt, dass Monero den Mining-Algorithmus ändert, Bitcoin Cash sich in einer Hardfork spaltet und Ethereum an Proof-of-Stake festhält? Wer entscheidet hier?

Bei den anderen Gruppen wäre die Frage einfach zu beantworten: Sie haben eine ökonomische Aufgabe – die Blockchain fortzuschreiben, Coins zu handeln, Wallet-Transaktionen zu ermöglichen – und diejenigen in der Gruppe, die diese Aufgaben am besten ausführen, erhalten die größte Belohnung und den höchsten Einfluss: Börsen messen Einfluss durch das Handelsvolumen, Wallets durch die Userzahl, Investoren durch der Anzahl Coins in der Wallet und Miner durch der Hashrate. Einzelner Akteure – ein Geschäftsführer zum Beispiel – gewinnt seinen Einfluss oft durch politische und persönliche Gründe. Doch die Feedbacks im Ökosystem korrigieren dies, so dass Einfluss ohne Leistung rasch abstirbt.

Bei Entwicklern gilt dies nicht. Es gibt keine Feedback-Schleife, die den Einfluss einzelner Akteure an die Leistung im Rahmen der ökonomischen Beziehungen korrigiert. Die Open-Source-Szene hat gewöhnlich ihre eigene Art der Meritokratie, in der die subjektive Einschätzung über die Qualitäten eines Entwicklers sowie die persönlichen Beziehungen entscheiden, wie viel Einfluss ein Einzelner hat. Diese informelle Hierarchie funktioniert oft; weil aber die korrektive Wechselwirkung fehlt, läuft sie Gefahr, den Einfluss von persönlichen Beziehungen, Korruption oder Gruppendynamiken zu verfestigen.

Die Position der Entwickler überwindet damit auf der einen Seite die Beschränkungen der reinen Marktbeziehungen, um das Ökosystem nach Art eines „Rats der Weisen“ zu lenken. Auf der anderen Seite bringen die Entwickler mehr als alle anderen Akteure die Mechanismen der Politik in Kryptowährungen – mit ihren Vorteilen, aber auch ihren Gefahren.

Über Christoph Bergmann (2801 Artikel)
Das Bitcoinblog wird von Bitcoin.de gesponsort, ist inhaltlich aber unabhängig und gibt die Meinung des Redakteurs Christoph Bergmann wieder ---

3 Kommentare zu Der Binokel und die Herrschaft über eine Kryptowährung

  1. „The nature of Bitcoin is such that once version 0.1 was released, the core design was set in stone for the rest of its lifetime.“
    Zitat Satoshi, https://bitcointalk.org/index.php?topic=195.msg1611#msg1611

    Ich frage mich, was die Entwickler daran nicht verstanden haben.

  2. Christoph schreibt einfach die mit Abstand besten Artikel, danke dafür!

  3. > Bei Entwicklern gilt dies nicht. Es gibt keine Feedback-Schleife, die den Einfluss einzelner Akteure an die Leistung im Rahmen der ökonomischen Beziehungen korrigiert.

    Doch die gibt es, insbesondere bei Open Source Projekten – und die meisten Kryptowährungen sind solche.

    Wenn ein OpenSource Projekt nicht mehr die Leistung bringt, die die Nutzer erwarten, findet sich oft ein Herausforderer, der das Projekt forkt und weiterführt.

    Ein Fork der mehr Leistung – im Sinne der Nutzer – bringt, als sein Original, wird häufiger runtergeladen und setzt sich letztendlich durch. Der Fork muss dafür aber i.d.R. nicht nur gleich gut, sondern tatsächlich wesentlich besser sein als das Original. Insbesondere ein Splitting Fork bürdet dem Ökosystem ja auch große Kosten – in Form von Risiken – auf.

    Wenn ein Fork nur da aufsetzt, wo der andere aufhört (also z.B. mit Einverständnis des Originalentwicklers) ist forken hingegen immer smooth.

    Dass es zu den Coreentwicklern einer Kryptowährung manchmal wenig Alternativen zu geben scheint, liegt eigentlich nicht daran, dass es diese Alternative überhaupt nicht geben könnte.

    Es liegt eher daran, dass die Entwickler – zumindest aus Sicht des Marktes – ihre Sache ausreichend gut machen. Wies gesagt muss der Herausforderer, immer wesentlich besser sein, um das Risiko eines Splits zu rechtfertigen.

    Machen die Entwickler ihre Sache aber nicht ausreichend gut, hat ein Fork eine durchaus veritable Chance, der Stärkere zu werden. Das ist eine Feedbackschleife, die Entwickler sehr motiviert, das Gewünschte zu tun.

    Deswegen kann ich dieses starke Mistrauen gegenüber potentiell übermächtigen Entwicklern, ehrlich gesagt, auch wenig verstehen. Entwickler sind genauso vom Ökosystem getrieben, wie andere Akteure auch. Oft sogar mehr.

Schreibe eine Antwort zu JonasAntwort abbrechen

Entdecke mehr von BitcoinBlog.de - das Blog für Bitcoin und andere virtuelle Währungen

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen