Euroclear: die Utopie der Blockchain-Kapitalmärkte
Auch Euroclear beschäftigt sich mit der Blockchain. Die weltweit größte Clearing-Gesellschaft hat gemeinsam mit Beratern einen Bericht über den Einfluss verfasst, den die Blockchain-Technologie auf die Finanzmärkte haben kann. Spoiler: er ist riesig.
Es gibt mehrere Visionen von der Zukunft des Bitcoins, die teilweise widersprüchlich sind. So halten die einen die Kryptowährung für ein effizientes Transaktionssystem, während andere meinen, sie sei ein Settlement-Netzwerk, um dezentral Werte zu transportieren. Auch für die Blockchain-Technologie findet man verschiedene Visionen, die nicht immer deckungsgleich sind.
Historisch-politisch ist die Blockchain ein Riesenschritt auf dem langen Weg der Dezentralisierung. Blockchains ermöglichen Dezentrale autonome Unternehmen (DaO), die mehr oder weniger niemandem gehören, sie sozialisieren den Zugriff auf ein öffentliches, verifiziertes Register und schalten Mittelsmänner sowie Bürgen aus. Blockchains sind in einem ähnlichen Sinne eine Revolution wie private Verkehrsmittel oder der Personal Computer – sie ermächtigen die Leute, etwas selbständig zu tun, für das sie früher Hilfe gebraucht haben.
Eine verbindliche Version der Wahrheit
Wirtschaftlich-Technologisch sind Blockchains dagegen eine innovative Methode, Daten zu organisieren und zu teilen, die eine einzige Version einer Wahrheit über ein Register erzeugt. Dies kann zahlreiche Prozesse auf den Kapitalmärkten durchgreifend verändern und wird, im besten Falle, dazu führen, dass die bestehenden Akteure ihre Stellung behalten und ausbauen.
Euroclear hat gemeinsam mit der Unternehmensberatung Oliver Wyman ein Papier zur Blockchain veröffentlicht. Die größte Clearing-Gesellschaft der Welt, die einen Wertpapierumsatz von mehr als 500 Billionen Euro abwickelt, zeichnet darin ihre eigene Vision der Blockchain: die Utopie der Distributed Ledger, der verteilten Register, die die kompletten Kapitalmärkte umspannen.
In der Vision von Euroclear spielen Kryptowährungen keine direkte Rolle, sind aber auch nicht ausgeschlossen. Euroclear beschäftigt sich in diesem Report nicht mit den technologischen Umständen oder Details der Umsetzung, sondern geht von einer Zukunft aus, in der interoperative Blockchains alle Bereiche der Finanzwirtschaft umfassen – Überweisungen, Aktien, Börse, Derivate, Guthaben – und alle Schritte des Handels, von der Vereinbarung zum Settlement, abdecken.
Der Kern der Blockchain-Innovation ist einfach auf den Punkt zu bringen: Sie bringt alle Teilnehmer eines Systems dazu, sich ohne zentrale Partei auf eine Version der Wahrheit zu einigen. Es ist nicht nur nicht erlaubt, sondern gar nicht möglich, über den Inhalt des Registers zu diskutieren. So kann etwa ein Wertpapier, das bisher in fünf oder sechs Schichten existiert (Broker, Bank auf Verkäuferseite, lokaler Custodian, globaler Custodian, CSD …) auf eine einzige, verbindliche Schicht reduziert werden. Dieses finale Settlement findet beinah im selben Moment wie der Handel statt.
Umfassende Folgen
Der Effekt: Jeder der vier Schritte eines Handelszyklos wird einfacher, schneller, sicherer und transparenter. Ein guter Vergleich wäre wohl die Entdeckung eines neuen Werkstoffes, der, wenn er im breiten Einsatz ist, Anwendungen in allen Bereichen verbessert. Die Blockchain ist ein echter Paradigmenwechsel in dem Sinn, dass sie komplizierte Schichten unnötig macht.
Der Bericht liefert auch einige konkrete Beispiele. Etwa Anleihen, die unkompliziert auf einer Blockchain ausgegeben werden und in denen die Ausschüttung der Zinsen durch Smartcontracts vorprogrammiert ist. Oder Handelsparteien, die vor dem Trade automatisch prüfen, ob die Gegenseite über die notwendigen Mittel verfügt, und Derivate, die externe Daten abfragen, um komplexe Ereignisse auszuführen, die als einfache Transaktion strukturiert sind.
Die Folgen für den Markt sind umfassend und nicht für jeden angenehm. Während die Kunden davon profitieren, dass der Handel schneller, günstigerer, sicherer und transparenter wird, und Handelsplätze eine zusätzliche Bedeutung in der Ausführung des Settlements gewinnen können, wird der Einfluss von CCPs (Zentrale Gegenparteien) sowie Custodians (Depotbanken) reduziert werden.
Euroclear ist optimistisch, die eigene Rolle weiterhin ausführen zu können. Denn Zentralverwahrer (CSD) werden weiterhin notwendig sein, um die Ausgabe von Assets zu koordinieren und zu gewährleisten, dass der Markt korrekt funktioniert. Allerdings wird sich ihr Umfeld ändern und Blockchains werden zu einem zentralen Arbeitsmittel. Die CSDs werden, so der Bericht, den Betrieb und die Evolution der Blockchain steuern und koordinieren. Das ist natürlich eine interessante, umfangreiche und verantwortungsvolle Herausforderung für Euroclear und andere Zentralverwalter.
Die Revolution beginnt in einer Nische
Allerdings wurde Rom nicht an einem Tag erbaut. Die weitreichende Verbreitung von Blockchains stellt einen massiven Umbau der Kapitalmärkte dar. Zahlreiche Hürden sind noch zu nehmen. So muss die Technologie noch beweisen, dass sie ausreichend skalieren kann, um in Kapitalmärkten eingesetzt zu werden, der rechtliche und regulatorische Kontext muss sich erst noch bilden, und es fehlen bislang gemeinsame technologische Standards, die notwendig sind, um Blockchains interoperabel zu machen, und es braucht eine Blockchain für „cash“ – also echte Währungen – solange virtuelle Währungen kein stabiler Wertspeicher sind (beachte: die nativen Währungen wären Blockchains sind der direktere und einfachere Weg, um Werte zu übermitteln!).
Euroclear schätzt, dass dies noch 5-10 Jahre dauern wird. Jedoch sollten in den kommenden 12-24 Monaten die ersten „first order use cases“ erscheinen – Anwendungen, die in kleinen Bereichen starten, in der die kritische Masse mit wenigen Parteien zu erreichen ist. Denn jede Innovation beginnt als Nische.
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