Kollektivistisch, maskulin, machtfern – und bereit für Krypto
Sozialwissenschaft

Zwei Wissenschaftler aus Miami versuchen, zu bestimmen, welche Eigenschaften eine nationale Kultur haben muss, damit ihre Mitglieder offen dafür sind, mit Kryptowährungen zu bezahlen. Dabei verwenden sie ein etabliertes und klassisches Modell, zeigen, warum China das perfekte Blockchain-Land ist – und präsentieren die eine oder andere Überraschung.
Gibt es Formeln, durch die man Märkte und soziale Vorgänge abbilden, vielleicht sogar berechnen und prognostizieren kann? Kann man etwa messen, inwieweit ein Land und seine Leute bereit dafür sind, Bitcoin als Zahlungsmittel zu verwenden? Gibt es bestimmte Charaktereigenschaften, individuelle wie kollektive, die Menschen zu Bitcoinern machen?
Mit unseren Umfragen versuchen wir immer wieder, die Mentalität der Bitcoin- und Kryptoszene auszuloten. Das brachte auch einige durchaus interessante Ergebnisse hervor – etwa zum “Bitcoin-Michel” -, doch meist fehlt die solide sozialwissenschaftliche Basis, die nötig ist, um belastbare Resultate zu erhalten. Zum Glück beschäftigen sich aber auch, zumindest manchmal, echte Sozialwissenschaftler mit dem Thema.
Das jüngste Beispiel ist das Paper “The effects of individual-level espoused national cultural values on the willingness to use Bitcoin-like blockchain currencies” von Eduardo Salcedo und Manjul Gupta, zwei Wissenschaftlern an der Florida International University in Miami. Die beiden widmen sich der Frage, welche Rolle nationale Kulturwerte dabei spielen können, ob Individuen bereit sind, Blockchain-basierte Währungen zu verwenden.
Konzeptuell bauen die Forscher dabei auf den fünf kulturellen Dimensionen nach Geert Hofstede auf. Dieses Gerüst ist interessant und etabliert. Zahlreiche Studien haben Hofstedes Dimensionen auf verschiedene Länder und Populationen angewandt und mit anderen Eigenschaften abgeglichen. Sie erklären nicht alles, was zu erklären ist, haben sich aber als ein solides und sinnvolles Instrument interkultureller Sozialforschung erwiesen.
Salcedo und Gupta beschreiben Hofstedes fünf Dimensionen und formulieren Hypothesen, wie sie das Verhältnis der Individuen zu Kryptowährungen beeinflussen.
Maskulin, ungleich, unsicherheitsaffin, kollektivistisch
- Die erste Dimension “Individualismus-Kollektivismus” misst “den Grad, wie sehr Individuen mit lockeren oder engen sozialen Gruppen verbunden sind.” Eigentlich ist das selbsterklärend: Kollektivisten setzen das Wohl der Gruppe über das eigene. Sie schätzen geteilte Werte, Individualisten dagegen Autonomie. Da die Bitcoin-Szene tendenziell liberal bzw. libertär eingestellt ist, also individualistisch-freiheitlich, liegt es nahe, zu vermuten, Individualisten neigten eher zu Krypto als Kollektivisten. Salcedo und Gupta nehmen aber das Gegenteil an: “Blockchain-Communities”, wie um Bitcoin, reflektierten “die Kernprämisse des Kollektivismus: dass Individuen ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit empfinden.” Blockchains schaffen Communities auf der ganzen Welt, die sich teilweise zu hochgradig homogenen und nach außen aggressiv abgrenzenden “Stämmen” verbinden. Das erstaunt, ergibt aber Sinn. Kryptowährungen leben vom Netzwerkeffekt, Geld ist immer eine Sache des Herdentriebs.
- Die zweite Dimension, die “Machtferne” beschreibt die Verteilung von Macht in einer Gesellschaft. Sie misst den Grad der Ungleichverteilung, sowohl von materiellen Gütern als auch von Ansehen, Bildung, politischem Einfluss und Gesundheit. Die beiden Autoren gehen nun davon aus, dass “hohe Werte der Machtferne zur Nutzung von Blockchain-basierten Währungen führen.” Je ungleicher eine Gesellschaft, desto eher wird Bitcoin verwendet. Warum? Erstens, erklären die Autoren, weil der persönliche Status desto wichtiger wird, je höher die Machtferne ist, und die Individuen daher nach Produkten suchen, die symbolisch eine Art Rang oder Status repräsentieren. Und jemand, der Kryptowährungen benutzt, “wird wahrscheinlich als jemand wahrgenommen, der mehr Wissen hat als diejenigen, die traditionelle Währungen verwenden.” Zweitens neigt man bei einer hohen Machtferne stärker dazu, mit denen konform zu gehen, die Macht haben, weshalb Krypto-Influencer mehr Einfluss ausüben. Das ist erneut erstaunlich, aber plausibel.
- Die dritte Dimension, “Maskulinität und Feminität“, meint nicht das biologische Geschlecht, sondern eher das Klischee über dieses: Es gibt typisch männliche Eigenschaften, etwa Zielstrebigkeit, Heldenmut und Durchsetzungsvermögen, sowie typisch weibliche, etwa Kooperationsfähigkeit, Bescheidenheit, Sorge für andere. Maskulinität legt Wert auf Leistung und Erfolg, Feminität auf Personen und Emotionen. Vergangene Forschungen haben nun gezeigt, dass Individuen in Kulturen, die von maskulinen Werten geprägt sind, sich stärker dafür interessieren, ob neue Technologien nützlich sind. Helfen sie, Zeit und Geld zu sparen, den Job effizienter zu erledigen? In maskulinen Kulturen nehmen Leute etwa eher an der Sharing-Ökonomie teil, etwa an AirBnB und Uber. Da Blockchain-basierte Währungen klare Vorteile bieten – sie ermöglichen sichere, unabhängige Transaktionen – gehen die Forscher davon aus, dass männliche Kulturen eher bereit sind, sie als Zahlungsmittel zu verwenden.
- Die vierte Dimension, die “Unsicherheitsvermeidung“, drückt den Grad aus “in welchem Mitglieder einer Gesellschaft sich unwohl mit Unsicherheit und Doppeldeutigkeit fühlen.” Ist diese Dimension ausgeprägt, fürchten sich Leute von ungeplanten und unbekannten Ereignissen. Das Problem sind nicht Risiken an sich – sondern Risiken, die schwer einzuschätzen sind. Daher benötigen solche Gesellschaften feste, normative Regeln. Da Kryptowährungen neu sind und voller schwer berechenbarer Risiken, liegt nahe, dass Mitglieder einer unsicherheitsvermeidenden Gesellschaft sie eher meiden.
- Die fünfte und letzte Dimension ist die der “Lang- oder kurzfristigen Orientierung“. Sie misst “den Grad, zu dem Individuen auf ihre eigene Vergangenheit zurückgreifen, um Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft zu begegnen.” Gesellschaften mit einer kurzfristigen Orientierung “erweisen Traditionen einen tiefverwurzelten Respekt und begegnen gesellschaftlichem Wandel mit Skepsis.” Ist die Orientierung dagegen eher langfristig, “akzeptieren die Einzelnen, dass Wandel unvermeidbar ist” und halten es für wichtig und wünschenswert, sich an verändernde Umstände anzupassen. Wenig überraschend postulieren Gupta und Salcedo, dass Kryptowährungen in Gesellschaften mit langfristiger Orientierung besser ankommen.
Fassen wir die Hypothese zusammen: Je maskuliner, ungleicher, kollektivistischer, veränderungswilliger und unsicherheitsaffiner eine Kultur gepolt ist, desto offener begegnet sie Kryptowährungen.
Eine Umfrage bestätigt die Hypothesen
Aber all das ist eine Hypothese. Wir haben ein Modell, um nationale Kulturen zu vermessen, sogar ein etabliertes und gut erforschtes Modell, sowie eine Handvoll Vermutungen, wie dieses Modell beeinflusst, ob Individuen bereit sind, Blockchain-Währungen zu verwenden. Das ist alles interessant, ohne Zweifel – aber es ist dennoch nur Theorie, Spekulation und Hypothese. Genug für eine Hausarbeit im Grundstudium oder einem Artikel auf einem Blog. Aber zu wenig für ein Paper, das sich Wissenschaft nennt.
Gupta und Salcedo haben ihre Hypothesen geprüft. Das war die eigentliche Arbeit, die in das Paper geflossen ist. Sie haben eine Online-Umfrage entwickelt und jedem Teilnehmer über Amazon Mechanical Turk 1,50 Dollar bezahlt haben. Um zu verhindern, dass unbekannte nationale Eigenschaften das Ergebnis verfälschen, haben sie Teilnehmer aus den USA und aus Indien zugelassen. Mitgemacht haben insgesamt 242 US-Amerikaner und 207 Inder.
Die Umfrage bestand aus zwei Teilen: Der erste ermittelte anhand eines bekannten und etablierten Fragekatalogs die kulturelle Dimension der Teilnehmer. Die Methodik hier ist klassisch: Je Dimension gibt es eine Handvoll Sätze, die Teilnehmer müssen angeben, wie sehr auf sie diesen auf einer Skala von 1-5 zustimmen, und die akkumulierten Werte geben an, wie stark die Dimension ausgeprägt ist.
Den zweiten Teil haben die Wissenschaftler selbst entwickelt. Sie erfanden einen hypothetischen DIGIcoin, den sie auf eine Weise beschrieben, die typisch für “Blockchain-Währungen” wie Bitcoin ist. Die Idee dabei ist, dass Bitcoin zu oft mit Kriminalität, Spekulation und anderen negativen Eigenschaften verbunden wird, ein illusionärer DIGIcoin dagegen neutral wirkt. Danach fragten sie die Teilnehmer, wie bereit sie seien, DIGIcoin für bestimmte Zahlungen zu verwenden, etwa einen Elektro-Einkauf bei Newegg, eine Reisebuchung bei Expedia, eine Spende an Wikipedia und so weiter.
Danach haben sie die festgestellten Kulturdimensionen mit der Bereitschaft verglichen, mit DIGIcoin zu bezahlen – und festgestellt, dass sich ihre Hypothesen vollständig bestätigen. Jede einzelne Vermutung traf ins Schwarze.
Dabei sind jedoch einige Unterschiede zu erkennen: Die kollektivistische Einstellung war überraschenderweise der mit Abstand stärkste Faktor, gefolgt von Machtferne und Maskulinität, während Langzeitorientierung und Unsicherheitsvermeidung weniger stark wirken.
China, Blockchain-Superland
Und was sagt uns diese Studie nun? Zum einen muss man natürlich im Hinterkopf behalten, dass es, wie bei jeder Sozialwissenschaft, keine absoluten Ergebnisse gibt, sondern nur Vermutungen mit einem verschieden hohen Grad an Wahrscheinlichkeit. Alle Daten stammen aus Amazons Mechanical Turk, die Teilnehmer repräsentieren daher weniger die typischen Inder oder US-Amerikaner, sondern typische indische oder US-amerikanische Mechanical-Turk-User.
Dennoch arbeiten die beiden Wissenschaftler recht klar heraus, wie bestimmte kulturelle Dimensionen die Bereitschaft beeinflussen, Kryptowährungen zu verwenden: Maskulinität, Kollektivismus und Machtferne öffnen für Krypto, Traditionsverhaftung sowie Unsicherheitsvermeidung verschließen. Es spricht nichts dagegen, dass man diesen Zusammenhang universell anwenden kann.
Mit Hofstedes Kulturdimensionen haben wir ein System, das bereits in Fülle erforscht und für die meisten Länder der Welt angewandt wurde. Wir können also auf Basis der Arbeit von Salcedo und Gupta Vermutungen anstellen, wie sehr die Einwohner eines Landes sich Bitcoin und anderen Kryptowährungen zuwenden. Auf Hofstede Insights kann man bis zu vier beliebige Länder vergleichen, ein Beispiel hierfür findet man auf Wikipedia.
Am Beispiel China funktioniert das Modell fast perfekt. Bis zum kürzlich erfolgten Vollverbot von Krypto war China der alles dominierende Einfluss; Chinesen liebten Bitcoin, Altcoins und Token über alles, und wenn sie dürften oder könnten, würden sie weiterhin lieben. Nach dem Paper von Salcedo und Gupta erstaunt das nicht: Die nationale Kultur ist machtfern, kollektivistisch, maskulin, langfristig orientiert und kennt wenig Scheu vor Unsicherheit. Ein perfekteres Millieu für Krypto ist kaum vorstellbar; der Verlust, den das Vollverbot verursacht, wird dadurch erst greifbar.
An seine Grenzen stößt das Modell jedoch bei den westlichen Industrienationen. Die Ergebnisse fallen hier gemischt und durchwachsen aus. So sollten die USA ein ziemlich unfruchtbarer Boden sein: Die Kultur ist sehr individualistisch, kurzfristig orientiert – also konservativ oder traditionell – und hat eine relativ geringe Machtferne. Dennoch sind die Vereinigten Staaten eine treibende Kraft für Krypto, vielleicht noch mehr, als China dies war. Ähnlich der Fall Deutschland: Die Machtferne sehr gering, der Kollektivismus niedrig, die Furcht vor Unsicherheit groß – aber, immerhin, Langzeitorienierung und Maskulinität sind hoch. Dennoch dürfte Deutschland diesem System zufolge ein eher wenig kryptoaffines Land sein.
Und Russland und die Türkei, zwei Länder, denen eine hohe Offenheit für Krypto zugeschrieben wird? Auch bei ihnen sieht es gemischt und durchwachsen aus: Sie haben zwar wie China hohe Werte bei Kollektivismus und Machtferne, aber ebenso hohe bei der Unsicherheitsvermeidung, und eher geringe bei der Maskulinität. Ein Krypto-Paradies sähe anders aus.
Abgesehen von China ist es also schwierig, klare Einsichten durch Hofstedes Kulturdimensionen zu erlangen. Zu oft gleichen sich diese gegenseitig aus, die eine Dimension öffnet hier für Krypto und verschließt dort, bei der anderen ist es genau umgekehrt. Daher scheint der Ansatz nur sehr begrenzt geeignet, zur Basis von harten Aussagen zu werden. Dafür bräuchte es, mehr Daten, mehr Umfragen, eine bessere Gewichtung der Faktoren, eine klarere Darstellung weiterer Einflüsse.
Zum Teil haben dies Salcedo und Gupta um diese bemüht. So haben sie geprüft, welche Rolle das Alter spielte (kaum eine), das Einkommen (eine große) und das Geschlecht (keine). Darüber hinaus haben sie die Werte für PIT, eine statistische Größe für die “persönliche Innovationsbereitschaft in der IT”, erhoben, und dessen sehr großen Einfluss auf die Neigung, Kryptowährungen zu verwenden, herausgearbeitet. PIT könnte erklären, weshalb Deutschland und die USA, trotz der für Krypto eher negativen kulturellen Dimensionen, sich Bitcoin stärker öffnet als andere Länder.
Das Ganze ist halt eben doch ein Puzzle vieler Teile.
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