Shapella, der Scheinriese von Ethereum

Mit dem Shapella-Upgrade hat Ethereum den Umstieg auf Proof of Stake vervollständigt: Man kann nun gestakte Ether auszahlen. Der befürchtete Exodus blieb aus – stattdessen steigt der Preis.
Fast jeder kennt den Scheinriesen aus Michael Endes Kindergeschichte „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“: Je weiter man von ihm entfernt ist, desto größer wirkt eher, doch wenn man näher kommt, schrumpft er aufs normale Maß.
„Sehen Sie, wenn Sie sich von mir entfernen, dann werden Sie immer kleiner und kleiner,“ erklärt er. „Nun, bei mir ist es genau umgekehrt, ich werde immer größer und größer.“
Die Scheinriesen der Märkte
Auch die Märkte und Trader haben ihre Scheinriesen. Man benennt sie üblicherweise mit der Aufforderung „Buy the rumor, sell the news“, kaufe das Gerücht und verkaufe das Ereignis, oder andersrum: So wie der Scheinriese erscheinen den Märkten die meisten Ereignisse vorher größer, als sie tatsächlich ausfallen. Die Erwartung bewegt den Kurs stärker als das Geschehen selbst.
Ein Beispiel wie aus dem Bilderbuch war das Shapella-Upgrade bei Ethereum. Dieses hat am vergangenen Mittwoch den Merge genannten Umstieg auf Proof of Stake vervollständigt, indem es die Auszahlungen von Ether in den Staking-Contracts ermöglichte. Bisher konnte man zwar Ether in einen Staking-Contract einzahlen, um einen Validator zu betreiben, aber weder die eingezahlten Ether noch die vereinnahmten Erträge auszahlen, was Gegenstand heftiger Kritik war, vor allem von Seiten der Bitcoin-Szene.
Shapella ergänzte nun diese fehlende Funktionalität, und zwar am Mittwoch, den 12. April, zu Epoche 194.048. Das Upgrade werde, hieß es im Vorfeld gerne, all die derzeit im Staking gebundenen Ether freigeben, den Markt mit diesen fluten, einen enormen Verkaufsdruck aufbauen und den Preis von Ethereum niederknüppeln. Als es dann soweit war, geschah jedoch – genau das Gegenteil: Der Preis stieg fast unmittelbar nach dem Upgrade.

Preis von Ethereum in Dollar (blau) und Bitcoin (orange) während der vergangenen 7 Tage nach CoinGecko.com
Schon am Freitag, den 14. April, war Ethereum von gut 1.700 auf gut 1.900 Euro gestiegen, also um mehr als 10 Prozent, und von einem Tief von 0,0623 Bitcoin auf mittlerweile etwa 0,07. Sell the Rumor, buy the News. Oder, wie Lukas der Lokomotivführer seinem Begleiter Jim Knopf erklärt, nachdem sie dem Scheinriesen begegnet sind: „Na siehst du. Angst taugt nämlich nichts. Wenn man Angst hat, sieht meistens alles viel schlimmer aus, als es in Wirklichkeit ist.“
Auszahlungen aus dem Staking-Contract
Seit vergangenen Mittwoch kann man also gestakte Ether samt der Erträge auszahlen. Das löste einige spannende Entwicklungen aus, die wir hier in vielen Zahlen und Statistiken unter die Lupe nehmen.
Der befürchtete Exodus blieb wie gesagt bisher aus. Weder wurden Million von Ether verkauft, noch dünnte das Netzwerk der Staker aus. Die Anzahl der aktiven Validatoren – das sind Nodes, die staken – sowie die Summe von Ether im Staking-Contract erreichten kurz nach dem Upgrade, am 13. April, sogar ein neues Hoch von 563.051 bzw. 18.017.904, brachen danach aber ein Stück ein, auf 561.655 und 17.972.764 – ein sehr milder und gut verkraftbarer Rückgang, im großen Bild vermutlich nicht mal eine Randnotiz.

Anzahl der Validatoren und gestakter Ether nach Beaconcha.in
Dennoch gab es interessante und auch massive Bewegungen zu beobachten. Einen Blick auf die nackten Zahlen gewährt Token.Unlocks, wo man etwa erfährt, wie viele Ether an den Tagen nach Shapella aus dem Vertrag abgebucht wurden:
- 12. April: 14.295 ETH
- 13. April: 201.835 ETH
- 14. April: 103.291 ETH
- 15. April: 392.802 ETH
- 16. April: 280.338 ETH
- Heute bisher 43.507 ETH.
Insgesamt also mehr als eine Million Ether. Weitere 900.000 Ether stehen derzeit in der Warteschlange, um ausgezahlt zu werden, wovon im Lauf der kommenden 11 Stunden fast 18.000 fällig werden (dazu gleich mehr). Den Abbuchungen stehen rund 370.000 Ether in Einzahlungen gegenüber.
Unterm Strich sind also gut 530.000 Ether aus dem Staking-Contract geflossen, was gut einer Milliarde Euro entspricht. Warum aber nahm die Anzahl der gestakten Ether um einen viel geringen Wert ab?
Um solche Widersprüche aufzulösen, muss man einige Hintergründe zu Shapella kennen.
Teilweise und ganze Auszahlungen
Die erste wichtige Info ist, dass es zwei Arten von Auszahlungen gibt: Teilweise (Partial) und Ganz (Full).
Die teilweise Auszahlung meint, dass nur die eingenommenen Gebühren ausgezahlt werden, aber die 32 Ether, die ein Validator bei Ethereum benötigt, unangerührt bleiben. Diese teilweise Auszahlung geschieht automatisch alle 2-5 Tage, wenn man sie durch ein Präfix aktiviert. Vor Shapella haben 40 Prozent der Validatoren dieses Präfix aktiviert, mittlerweile sind es 83,3 Prozent, und langfristig werden es vermutlich 100 Prozent sein. Schließlich gibt es keinen vernünftigen Grund, die eingenommenen Gebühren im Staking Contract zu lassen, da ein Node nicht mehr als 32 Ether staken kann. Sie liegen also nutzlos herum.
Die vollen Auszahlungen dagegen meinen, dass man die 32 Ether, die den Validator bilden, vollständig auszahlt. Man fährt den Validator effektiv herunter.
Die absolute Mehrheit der Auszahlungen bucht nur die Belohnungen ab, lässt aber den Validator fortbestehen. Das erklärt, warum der Netto-Abfluss aus dem Contract so viel höher ist als der Rückgang der gestakten Ether. Nach einer kurzen Explosion der vollständigen Auszahlungen ebbten dies spürbar ab und versickerten sogar fast vollständig.

Das Dune-Dashboard von Hildobby zeigt die Auszahlungen aus dem Staking-Contract im Detail.
Doch auch die teilweisen Abbuchungen erreichen enorme Größen. Dies liegt daran, dass sich die Erträge seit dem Start der Beacon Chain mehr als zwei Jahre lang akkumuliert haben. Mit Shapella wurden diese Ether nun frei, um sich an anderer Stelle nützlich zu machen. Nur ein Bruchteil davon landet im Verkauf, wie der Preis zeigt; größere Teile werden vermutlich neu gestaked oder auf andere Weise produktiv genutzt, etwa im DeFi-Ökosystem
Von zentralen Börsen zu dezentralen Protokollen
Eine bemerkenswerte Folge von Shapella ist die weitere Dezentralisierung des Stakings. Die Ether fließen von zentralisierten Anbietern wie Börsen ab und in dezentralere Staking-Protokolle wie Lido.
Als das Staking vor zwei Jahren eröffnet wurde, waren zentrale Börsen eine gute Anlaufstelle, um bequem zu staken. Heute existieren zahlreiche andere, weniger zentralisierte Anbieter und Plattformen, bei denen das Risiko durch die Gegenpartei weniger groß ist. Bereits dies könnte viele User dazu bringen, ihre Staking-Positionen bei Börsen aufzulösen und bei anderen Plattformen neu einzurichten.
Darüber hinaus unterstützt die US-Börsenaufsicht SEC diesen Wandel, indem sie etwa die Börse Kraken dazu verpflichtet hat, das Staking-Programm für US-Kunden zu beenden. Diese werden damit von zentralen zu dezentraleren Anbietern getrieben.

Dieser Chart von Nansen.ai zeigt die Urheber von Auszahlungsanfragen.
So kommt es, dass Kraken derzeit mehr als 44 Prozent der Abbuchungs-Anfragen eingereicht hat, gefolgt von der Börse Binance mit 21,3 Prozent und Coinbase mit 13,2 Prozent. Lido und andere dezentralere Plattformen verzeichnen hingegen ein Plus an Staking-Einlagen.
Reichlich Luft nach oben
Allerdings ist es noch zu früh, die Daten abschließend zu bewerten. Denn die Auszahlungen werden durch das Protokoll begrenzt. So muss man mindestens 27 Stunden warten, um auszusteigen, und die Auszahlung selbst dauert dann noch 2-5 Tage. Das „Churn Limit“ definiert darüber hinaus eine maximale Anzahl an Validatoren, die je Epoche – alle 6,4 Minuten – abgeschlaltet werden können. Dieses Limit hängt von der Anzahl der Validatoren ab. Es beträgt 4, solange es maximal 327.680 Validatoren gibt und steigt je 65.536 weiteren um je eins.
Möglicherweise wird der Exodus der Staker durch solche Limits also künstlich verzögert oder versteckt. Allerdings spricht wenig dafür, und viel dagegen. Beispielsweise die Liquid Staking Token, wie von Lido. Diese Token bildeten gestakte Ether ab und sind seit langem handelbar, mit einem Abschlag, der in der Regel deutlich unter 0,1 Prozent lag. Würde es ein gigantisches Bedürfnis geben, die gestakten Ether zu verkaufen, hätte man es wohl am Kurs dieser Token bemerkt.
Ohnehin macht Shapella das Staking ja nicht schlechter, sondern attraktiver, da es eine lange bestehende Unsicherheit herausschneidet. Anstatt zu sinken dürfte der Anteil der Ether, die im Staking-Smart-Contract stecken, vielmehr steigen.
Im Vergleich mit anderen Proof-of-Stake-Blockchains gibt es bei Ethereum noch reichlich Luft nach oben. Während „nur“ 15 Prozent aller Ether staken, sind dies bei Avalanche gut 60, bei Cardano mehr als 66 und bei Solana sogar starke 72 Prozent; bei Polkadot staken noch 47 Prozent aller DOT, und bei Polygon immerhin 38. Nur die Binance Smart Chain hat eine ähnlich geringe Rate wie Ethereum, ist aber ein Sonderfall, da das Staking nicht ganz öffentlich ist.
Möglicherweise wird Ethereum niemals so hohe Anteile wie die anderen Blockchains erreichen, schlicht deswegen, weil Ethereum eine viel höhere Marktkapitalisierung hat und man Ether mehr anfangen kann als mit SOL, AVAX, DOT oder ADA. Dennoch besteht reichlich Potenzial, dass noch Ether im Wert vieler Milliarden Dollar dem Markt entzogen werden.
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