Forscher beweisen, dass Bitcoin dezentraler ist als Ethereum

Was ist Dezentralität – und wie misst man sie? Eine Gruppe chinesischer Forscher vergleicht die Dezentralität bei Bitcoin und Ethereum durch drei Metriken. Das Ergebnis zeigt aber vor allem, wie schwierig man die Dezentralität einer Kryptowährung messen kann.
Wenn es im Kryptobereich eine heilige Kuh gibt, dann trägt sie den Namen Dezentralität. Dezentralität ist Sinn und Zweck sowie Ursache und Ziel einer Blockchain. Sie macht den maßgeblichen Unterschied zwischen PayPal und Bitcoin aus. Mit ihr steht und fällt alles. Die Marktkapitalisierung aller Kryptowährungen, die jetzt eine Billion Dollar beträgt, kann man als den Wert betrachten, den der Markt einer dezentralen Lösung für Transaktionen gibt.
Aber — was ist Dezentralität? Ist eine Sache entweder zentralisiert oder dezentral? Kann man messen, ob etwas mehr oder weniger dezentral ist? Und wenn ja, wie?
Schrödingers heilige Kuh
Diese Fragen sind irrsinnig schwierig zu beantworten. Dezentralität ist an sich nur das Gegenteil der Zentralität. Sobald ein System kein Zentrum mehr hat, kann es als dezentral gelten. In dem Sinne würden schon drei gleich starke und unabhängige Parteien ausreichen,damit etwas dezentral ist. Gleichzeitig bestreitet niemand, dass ein System mit 100 unabhängigen und gleich starken Parteien dezentraler ist als eines mit drei. Aber wie genau soll man das definieren und messen?
Oder ist Dezentralität nur eine Funktion, um ein Resultat zu erzeugen – um Kryptowährungen sicher, zensurresistent und erlaubnisfrei zu halten? Ist demnach eine Kryptowährung, die diesen Zustand mit mit weniger unabhängigen Parteien erreicht, ebenso dezentral wie eine mit mehr Parteien?
Und ist eine theoretisch erreichbare Dezentralität mehr wert als die praktisch realisierte? Sind die Kosten, einen vollwertigen Knoten zu betreiben, ein besser Indikator für Dezentralität als die tatsächlichen Knoten? Oder die Kosten, das Netzwerk zu zentralisieren?
Was sind die essenziellen Metriken? Die Anzahl der Miner? Die der Mining-Pools? Der Knoten im Netzwerk? Oder der Verbindungen zwischen den Knoten, den Kanten im Graph? Sollte man auf die Verteilung der Einheiten der Währung schauen? Oder auf die Anzahl und Verteilung der Software-Implementierungen des Protokolls? Und welche Rolle spielt der Konsens-Mechanismus?
All diese Fragen sind längst nicht geklärt. Vermutlich kann man sie niemals allgemeingültig beantworten. Denn es handelt sich eher um Perspektiven, Ansichten und Glaubenssätze, die mit starken Vorurteilen einhergehen: Jeder hat seine liebste Kryptowährung und spätestens mit dem Investment die Unparteiigkeit verloren.
So steht es für Bitcoiner vollkommen außer Frage, dass Bitcoin die einzig wirklich dezentrale Kryptowährung ist, und dass nur Proof of Work Dezentralität erreicht. Bei Ethereum dagegen erhofft man sich von Proof of Stake mehr Dezentralität, während Cardano und Polkadot sich schon jetzt dafür bejubeln, viel dezentraler als Bitcoin zu sein, Craig Wrights BSV-Szene behauptet, nur die Unveränderbarkeit des Protokolls schaffe Dezentralität, und Ripple Labs tönt, XRP sei dezentraler als Bitcoin, obwohl der Rest der Welt Ripple für eine grässlich zentralisierte Veranstaltung hält. Und so weiter.
Dezentralität ist die heilige Kuh der Kryptoszene. Aber wie diese Kuh beschaffen ist und auf welcher Wiese sie weidet – das ist unmöglich festzustellen. Man könnte auch sagen, wir haben Schrödingers Kuh gesichtet – oder eben auch nicht.
Glücklicherweise gibt es Wissenschaftler, die versuchen, bei diesem Thema zu den nackten Tatsachen vorzustoßen.
Miner als zentrale Metrik für Dezentralität
In einem jüngst erschienenen Paper gehen drei Computerwissenschaftler der Universität Beijing der Frage nach, ob Bitcoin oder Ethereum dezentraler ist. Ihr Ansatz ist dabei sehr geradlinig: “Wir messen den Grad der Dezentralisierung der beiden Blockchains im Laufe des Jahres 2019, indem wir die Verteilung der Mining-Power berechnen.”
Viele unter euch werden jetzt den Kopf schütteln. Steht es mittlerweile nicht fest, dass Dezentralisierung ebenso sehr – wenn nicht noch mehr – durch die Anzahl der Full Nodes wie durch die Miner definiert wird? Wozu haben wir denn die ganze Jahre lang darüber gestritten und diskutiert?
Aber lassen wir den Wissenschaftlern die Definition, die für sich betrachtet Sinn ergibt: Man erkenne “intuitiv, dass es ein Hinweis auf eine zentralisierter kontrollierte – und potenziell weniger sichere – Blockchain darstellt, wenn weniger Parteien die Mehrheit der Ressourcen besitzt” und durch eine Kollaboration genügend Macht aufbringt, um die Blockchain anzugreifen und womöglich vergangenene Transaktionsdaten zu fälschen. Das wird zwar nicht der vollen Kompexität des Themas gerecht – weder technisch, noch soziologisch und ökonomisch – aber ist auch nicht falsch. Daher ist zu begrüßen, dass die Forscher versuchen, in diesem Teilbereich Klarheit zu schaffen.
Aber wie wir sehen werden, wirft ihre Methodik mehrere Probleme auf.
Gini, Shannon, Nakamoto
Die Forscher messen die Dezentralisierung der Miner durch drei Metriken: Den Gini-Koeffizient, die Shannon-Entropy sowie den Nakamoto-Koeffizient. Als Betrachtungszeitraum haben sie die Blöcke 556.459 bis 610.690 bei Bitcoin und 6.988.615 bis 9.193.265 gewählt – oder, banaler ausgedrückt: das Jahr 2019.
Was bedeuten die einzelnen Werte? Und was sagen sie über die Kryptowährungen aus?
Die erste Metrik ist der Gini-Koeffizient. Er ist relativ bekannt, da er gewöhnlich dazu dient, die Ungleichheit in Nationalstaaten zu messen. Um ihn zu kalkulieren, berechnet man die sogenannte Lorenz-Kurve der Einkommensverteilung und misst deren Abstand von der Kurve der vollkommen gleichen Verteilung. Ist der Abstand 0, hat jeder exakt gleich viel, ist er 1, hat einer alles. Um ihn in Prozent auszudrücken, wird er mit 100 multipliziert.

Formel zur Berechnung des Gini-Koeffizients
In Ländern wie Tschechien, Finnland oder Belgien liegt der Gini-Koeffizent unter 30, in vielen Ländern, darunter Deutschland, Pakistan und Japan, zwischen 30 und 35, in Lateinamerika und der Karibik meistens zwischen 30 und 40, zum Teil auch über 50, und in einigen afrikanischen Kändern sogar über 60. Für Bitcoin und Ether wird der Gini-Koeffizient recht ähnlich berechnet. Die Grundgesamtheit besteht eben nicht aus allen Einwohnern eines Landes, sondern aus den Minern, und der entscheidende Wert ist nicht das Einkommen, sondern die Anzahl gefundener Blöcke.
Der zweite Wert ist die Entropie nach Claude Shannons Informationstheorie. Entropie meint hier die Unsicherheit einer Information, welche Redundanzen notwendig macht und daher die Informationsdichte verringert. Wenn sich jemand undeutlich ausdrückt, muss er seine Nachricht wiederholen, um Missverständnissen vorzubeugen. Die Forscher wenden die Formel für Shannons Entropie auf das Mining an. Eine höhere Entropie werten sie als einen Indikator für Dezentralität. Je schwieriger es ist, zu erraten, wer den nächsten Block findet, desto breiter ist die Hashing-Power verteilt.

Formel für die Entropie nach Shannon
Die dritte Metrik ist der Nakamoto-Koeffizient, benannt nach Satoshi Nakamoto, dem Erfinder von Bitcoin. Er schlägt den konkreten Bogen zur Sicherheit einer Blockchain und ist definiert als die minimale Anzahl an Parteien, die zusammenarbeiten müssen, um 51 Prozent der Mining-Power im gesamten System zu gewinnen und dieses dadurch anzugreifen. Je mehr dieser Parteien notwendig sind, desto höher ist die Dezentralisierung.

Formel zur Berechnung des Nakamoto-Koeffizients
Klarer Fall – Bitcoin ist dezentraler
Die Ergebnisse sind sehr eindeutig: Der Gini-Koeffizient ist bei Bitcoin deutlich tiefer als bei Ethereum, während der Nakamoto-Koeffizient höher ist. Auch Shannons Entropie bestätigt dieses Urteil, wenn auch weniger deutlich.
Die Daten haben aber einige Unregelmäßigkeiten. So schwankt der Gini-Koeffizient sehr stark je nach dem gewählten Zeitfenster. Betrachtet man einzelne Tage, schwankt er zwischen 0,45 und 0,6. Skaliert man auf eine Woche, liegt er zwischen 0,6 und 0,7, und im Monatsschnitt erreicht er sogar zum Teil 0,9.
Der Grund ist leicht gefunden. Erstens liegt er am Gini-Koeffizienten selbst. Eine geringere Auflösung der Daten, warnt Wikipedia, sorgt für einen niedrigeren Wert. Zweitens liegt er im Mining begründet, in welchem das Finden eines Blocks ein zufälliges Ereignis im Strom der Wahrscheinlichkeit darstellt. Und jeder, der sich schon mal mit Würfel beschäftigt hat, weiß, dass bei 1000 Würfen das Ergebnis im Durchschnitt 3,5 beträgt, bei 10 Würfen dagegen auch mal 2,3 oder 4,8 betragen kann. Kurz gesagt: Um in einer zufälligen Reihe von Ereignissen eine Struktur herauszuarbeitene, benötigt man eine große Grundgesamtheit.

Gini-Koeffizient und Shannon-Entropie bei Bitcoin.
Ein Tag bei Bitcoin umfasst 144 Blöcke – eine zu kleine Menge, um die vorhandene Ungleichheit aufzuzeigen. Selbst die 1008 Blöcke, die es je Woche gibt, scheinen zuwenig zu sein. Erst in der Monatsskala schält sich die tatsächliche Ungleichheit – Zentralität – des Minings heraus – zumindest annährend.
Anders bei Ethereum: Hier finden die Miner alle 12,5 Sekunden einen Block, was am Tag gut 6.900 Blöcke ergibt. Der Gini-Koeffizient steigt in der Wochen- oder Monatsskalierung deutlich weniger stark als bei Bitcoin. Dass er es dennoch macht, zeigt aber, dass auch die Monatsperspektive bei Bitcoin die tatsächliche Ungleichheit noch nicht ganz erfasst.
Wenn man den Gini-Koeffizient von Bitcoin und Ethereum vergleicht, wäre es sinnvoll, die Tagesskala bei Ethereum mit der Monatsskala bei Bitcoin zu vergleichen. Dies schmälert die Differenz, aber Bitcoin bleibt weiterhin dezentraler.

Gini-Koeffizient bei Ethereum
Etwas verwirrend ist auch die Shannon-Entropie. Sie schwankt bei Bitcoin zwischen 3,5 und 4 und bei Ethereum zwischen 3,3 und 3,5, scheint also bei Bitcoin im Generellen etwas höher zu sein. Die stärkeren Schwankungen dürften erneut daran liegen, dass die Auflösung bei Bitcoin geringer ist als bei Ethereum. Merkwürdig ist aber, dass sich die Shannon-Entropie übers Jahr hinweg ähnlich wie der Gini-Koeffizienten entwickelt. Da höher beim Gini-Koeffizienten zentraler bedeutet, bei der Shannon-Entropie aber dezentraler, sollten die beiden Werte eigentlich negativ korrelieren – was sie aber nicht machen.

Entropie bei Ethereum
Eine mögliche Erklärung dafür finden die Forscher bei der genaueren Betrachtung der Blöcke. Diese Erklärung zerhagelt ihnen, nebenbei gesagt, ihre gesamte Methode.
Am 14. Januar 2019 fällt der Gini-Koeffizient auf 0,34 und die Shannon-Entropie auf 6,2. Beides sind extreme Werte, die das Potenzial haben, die gesamte Statistik zu verzerren. Die Ursache der Anomalie liegt in zwei Blöcken, die mehr als 80 unabhängige Coinbase-Adressen enthalten. Das sind die Adressen, an die die Erträge der Miner ausgezahlt werden. Gewöhnlich ist dies die Adresse des Pools, die die Erträge dann weiterleitet. An diesem Tag hat ein Pool wohl die unmittelbare Auszahlung durch die Coinbase getestet, und danach wohl wieder verworfen.
Die Methodik der Forscher führt also bei einer identischen Verteilung der Hashpower zu vollkommen anderen Ergebnissen, wenn ein Pool die Einnahmen direkt anstatt indirekt auszahlt. Das macht die Methode prinzipiell ungeeignet, überhaupt etwas festzustellen.
Konsistenter ist schließlich der Nakamoto-Koeffizient. Er bleibt bei Bitcoin weitgehend unabhängig von den zeitlichen Skalen meistens bei 4 und schwankt teilweise zwischen 4 und 5. Bei Ethereum dagegen bewegt er sich sehr konsistent zwischen 2 und 3. Das eindeutige Ergebnis besagt also, dass sich bei Ethereum nur 2-3 Parteien verbünden müssen, um einen 51-Prozent-Angriff zu fahren, während es bei Bitcoin (immerhin) 4 bis 5 sind.
Keine belastbaren Ergebnisse
Das Paper zeigt sowohl für Bitcoin als auch für Ethereum in allen Metriken eher schwache Werte für die Dezentralität. Der Gini-Koeffizient weist auf eine extreme Ungleichheit hin, der Nakamoto-Koeffizient auf eine extrem kleine Gruppe von Entitäten, die kollaborieren müssten, um das System anzugreifen.
Allerdings krankt diese Feststellung daran, dass die Forscher Pools und Miner gleichsetzen. Sobald ein Pool den Blockreward unmittelbar an die beteiligten Miner auszahlt, sinkt der Gini-Koeffizient auf 0,34 und der Nakamoto-Koeffizient steigt auf den höchsten je beobachteten Wert von mehr als 35. Beides sind Werte, die auf einen sehr hohen Grad an Dezentralität hinweisen. Für ernsthafte Schlussfolgerungen ist die Datengrundlage aber viel zu dünn. Deutlich wird aber, dass hier vorgenommene Messung in keinster Weise geeignet ist, die beteiligten Miner abzubilden.
So können zwar bei Ethereum 2-3 Pools kooperieren, um einen 51-Prozent-Angriff zu starten. Doch sobald die Miner, deren Hashpower die Pools bündeln, diese abziehen, ist der Angriff vorbei und der Pool ruiniert. Um auch nur kurzfristig Schaden anzurichten, sind die Pools darauf angewiesen, dass zahlreiche Parteien zwar nicht zwingend mitziehen, aber doch zumindest unaufmerksam bleiben. Dies macht auch den Nakamoto-Koeffizient an dieser Stelle eher nichtssagend.
Wenn das Paper etwas zeigt, dann, wie schwierig es ist, wenn nicht unmöglich, auch nur einen Aspekt der Dezentralisierung – das Mining – in präzisen Metriken abzubilden. Das ist interessant, wird aber kaum etwas dazu beitragen, die Frage nach der Dezentralität zu beantworten.
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