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Bitcoin als revolutionäre Praxis: Ethnografen skizzieren Forschungsagenda

Revolution! Anarchie! Bild von "A Syn" via flickr.com. Lizenz: Creative Commons

Technologische und ökonomische Studien zum Bitcoin gibt es zuhauf. Seltener sind Studien, die fragen, wie Kryptowährungen mit Mensch und Gesellschaft zusammenhängen. Vier Wissenschaftler der Univerity von Melbourne, Australien, entwerfen nun eine mögliche Agenda für ethnographische Studien rund um Bitcoin.

Im 19. Jahrhundert geschah es, dass westliche Forscher ausschwärmten, um in abgelegenen Urwäldern, im Amazonas oder auf pazifischen Inseln, die sogenannten “primitiven Völker” zu beobachten. Daraus entstand die wissenschaftliche Disziplin der Ethnologie, die die Feldbeobachtung von Gemeinschaften – Ethnografie genannt – mit einer Theoriebildung verbindet, warum die Menschen was wie machen. Legendär sind etwa die Arbeiten von Bronislaw Malinowski, der über Jahre hinweg die Stämme auf den pazifischen Inseln beobachtet hatte.

Einer der vielleicht spannendsten Aspekte der Ethnologie ist, dass man die Methoden auch auf die westlichen Gesellschaften anwenden kann. Wenn man die Großstädter oder Dörfer der Gegenwart anschaut, als seien sie Aliens, von denen man gar nichts weiß, dann kann man mit derselben Methode, mit der die Ureinwohner des Regenwaldes untersucht werden, besser verstehen, wie unsere Welt funktioniert.

Goldbugs, Hippies, Anarchisten, Trader – vereint in der Kritik am herrschenden System?

Wie lässt sich dies nun auf den Bitcoin übertragen? Das ist die große Frage, die Alexia Maddox, Supriya Singh, Heather Horst und Greg Adamson, alle von der Universität Melbourne, in ihrem Paper stellen. Sie deklarieren, dass ein ethnographischer Ansatz notwendig sei, um die bisherigen geisteswissenschaftlichen Forschungen zu Kryptowährungen zu ergänzen. Denn die Ethnografie vermag es, die menschlichen Erfahrungen und Motivationen hinter der Bitcoin-Praxis aufspüren, während die bisherigen, eher soziologischen und ideengeschichtlichen Ansätze versuchen, zu erkennen, welche neuen, alternativen Zukunftsperspektiven aus den politischen Diskursen und technologischen Möglichkeiten rund um Kryptowährungen erwachsen.

Aber wie konkret sind die Fragen, mit denen sich die Ethnologen dem Bitcoin nähern? In welchen Kontext sind diese menschlichen Erfahrungen und Motive zu stellen? Die vier australischen Forscher treffen hierzu eine Richtungsentscheidung, indem sie Themen wie Gier oder Kriminalität ausklammern und sich dafür auf revolutionäre und kritische Diskurse konzentireren: darauf, “wie die Aneignung von Kryptowährungen wie Bitcoin eine alternative Sichtweise von Werten und deren Austausch repräsentiert und damit zur Kritik an den existierenden finanziellen Strukturen wird.” Kryptowährungen werden also zum Vehikel revolutionären Denkens idealisiert und ihre Nutzung als revolutionäre Praxis angesehen.

Bitcoin ist für Community also eine Kritik an der Fiat-Ökonomie, welche die Privatsphäre der Nutzer reduziert, persönliche Freiheiten missachtet und den Fluss des Geldes durch staatliche und unternehmerische Aufsicht behindert. Neben einer Kritik an Fiat-Geld zieht sich als roter Faden durch die Community auch ein Einsatz für die freie Meinungsäußerung und für Privatsphäre sowie eine Praxis von Selbstregulierung und der Entstehung von Meritokratien in der Crowd.

Da Kryptowährungen also ein Phänomen sind, in dem digitale Communities alternative, dezentrale Technologien des Bezahlens anwenden, um dabei Kritik an den herrschenden Verhältnissen auszuüben, fragen Maddox, Singh, Horst und Adamson in einer etwas überraschenden Wendung, unter welchen Bedingungen es passiert, dass Communities sich Kryptowährungen zuwenden.

Internationale Überweisungen – kaum erforscht

Ja – unter welchen Bedingungen und Umständen? Darauf geben die Forscher selbstverständlich keine Antwort. Um ein Beispiel zu liefern, wie man solche Fragen erforschen könnte, tauchen sie jedoch oberflächlich in zwei recht unterschiedliche Felder ein. Zum einen suchen sie nach eher pragmatischen Gründen, Kryptowährungen zu benutzen, und zum anderen analysieren sie die symbolisch-weltanschaulichen Implikationen der Bitcoin-Nutzung.

Als einen der “interessantesten Aspekte” der pragmatischen Nutzung von Bitcoins erkennen die Forscher internationale Überweisungen. Ich hätte ja das Darknet oder die Online-Scammer spektakulärer gefunden, aber, nun ja: internationale Zahlungen sind teuer und langsam, vor allem, wenn Banken im Spiel sind und das Geld ins Afrika südlich der Sahara gehen soll. 10 Prozent Gebühr für eine 200-Dollar-Überweisung sind hier keine Seltenheit. Dienstleister, die Bitcoins benutzen, können solche Transaktionen deutlich günstiger und schneller machen.

Ein relativ bekanntes Beispiel ist BitPesa, ein Service, der über mobile Wallets Geld von Großbritannien nach Kenia sendet und mit 3 Prozent Gebühren günstig ausfällt. Die einzige Untersuchung, die es bislang dazu gib – mich wundert, dass es überhaupt eine gibt – zeigt jedoch, dass BitPesa vor allem von Unternehern genutzt wird, um international Geld zu empfangen. Für die Autralischen Forscher scheint dies enttäuschend zu sein, da sie sich erhofft hatten, ein Beispiel für finanzielle Inklusion der “unbanked” und “underserved” zu finden. Dies scheint derzeit nicht der Fall zu sein, auch wenn die Forschungslage hierzu nicht wirklich aussagekräftig ist.

Neben BitPesa gibt es noch zahlreiche Berichte von Startups aus der Karibik, Australien oder Indien, wie Bitcoin die Kosten internationaler Überweisungen senkt. Allerdings gibt es keine Studien, die dies genauer anschauen. Diese zu erstellen wäre eine Aufgabe von Ethnografen – womit wir ein Programm für die Ausgangsfrage hätten: Unter welchen Umständen wird Bitcoin für internationale Überweisungen genutzt – und welche Folgen hat dies für die Menschen?

Warum Vertrauen in Code politisch ist

Wenn Leute Bitcoins benutzen haben sie zunächst oft einen materiellen Vorteil. Etwa geringere Gebühren. Darauf folgend verändert aber die Nutzung des Bitcoins auch die Menschen. Jedes Werkzeug, so die Theorie der Ethnologie, hat einen Einfluss auf die symbolische Lebenswelt der Menschen, die es benutzen. Nichts ist neutral.

Daher fragen die Ethnologen in einem zweiten Schritt nach der Rolle von “Vertrauen, Wert und Tausch”. Insbesondere Vertrauen ist im Bitcoin-Umfeld ein hochspannender Begriff. Einerseits ist Vertrauen ein technologisches Problem, das durch kryptographische Protokolle gelöst wurde. Es ist eine der großen, geradezu historischen Innovationen des Bitcoins, dass er den Faktor Vertrauen aus dem Prozess der ortsübergreifenden Übermittlung von Werten ausschaltet.

Dennoch braucht auch Bitcoin weiterhin Vertrauen. Die User vertrauen zum einen dem Code, den kryptographischen Algorithmen, und sie vertrauen zum anderen auf die Schwarmintelligenz, die Fehler im Code findet und den Code verbessert. Immer wenn jemand Bitcoin benutzt, bringt er den Entwicklern und dem Schwarm, der diese kontrollieren soll, Vertrauen entgegen. Oder trauen Sie sich zu, im Source Code von Bitcoin einen Bug zu entdecken, der Ihnen alle Bitcoins stehlen kann?

Dieses Vertrauen schlägt jedoch in einen politischen Diskurs um, wie die vier Ethnologen in einer weiteren überraschenden Wendung erläutern: Wenn das Vertrauen in Code, anstatt Personen, ausreicht, um Werte zu übermitteln und Geld zu erzeugen – dann untergräbt dieses wie von selbst die “vom Staat gebilligten dritten Parteien, die die Zirkulierung und den Wert von Geld regulieren und kontrollieren.” Das Vertrauen, das notwendig ist, um Bitcoin zu benutzen, ist an sich schon eine Kritik an den herrschenden Zuständen.

Bitcoin ist, so gesehen, also eine Technologie, die nicht nur – wie ich am Montag behauptet habe – empfänglich für liberale Ideologien ist: sie trägt diese durch ihr technisches Design bereits in sich. Es gibt keine neutrale Zone bei Kryptowährungen, jedes bit ist Politik.

Fragestellungen für die Ethnografie

Mit welchen Fragestellungen können sich also Ethnologen dem Bitcoin zuwenden? Laut den Autoren gibt es drei maßgebliche Bereiche: Erstens regt das Design von Bitcoin die Bildung von Communities des sozialen Widerstands an, die Werte wie persönliche Souveränität und Freiheit teilen. Diese Communities und ihre Rolle bei der Bildung von dezentralen Zahlungssystemen weist auf die Entwicklung noch unzureichend erforschten digitalen sozialen Neulands hin. Der Bitcoin wird also zum Beispiel für die Entstehung und Selbstregulierung kritischer digitaler Communities.

Der zweite Bereich ergibt sich aus der Internationalität der Bitcoin-Communities sowie der Fähigkeit des Bitcoins, den grenzübergreifenden Handel zu erleichtern: Die Ethnographen schlagen vor, “die sozialen Umgebungen zu untersuchen, in denen Bitcoin-Zahlungen den internationalen Handel und internationale Zahlungen schneller, privater und günstiger machen als die gegenwärtigen Systeme.” Feldforschungen können also daran ansetzen, zu untersuchen, wie Kulturen von Gastarbeitern und der dritten Welt mit einem Erste-Welt-Techno-Phänomen zusammenkommen.

Der dritte Bereich schließlich soll aus einer ethnographischen Perspektive erkunden, wie die Bitcoin-User über die Währung denken, welche Werte, Erfahrungen, Risiken und Symbole dabei zum Zuge kommen. Hier stelle ich mir vor, dass qualitative Sozialstudien oder auch “ethnographische Feldforschungen” in sozialen Medien reichlich Material darüber finden können, wie die Leute durch die Linse Bitcoin auf die Welt schauen.

Alle diese drei Bereiche, so die Forscher, “bieten verschiedene, aber verwandte Perspektiven darauf, wie Kryptowährungen die existierenden Zahlungssysteme kritisieren und hacken.” Jede Perspektive auf Bitcoin und Co. kann sich also auf die revolutionären Aspekte konzentrieren, um diese zum Schmelzpunkt zu machen, in dem die verschiedenen Arbeiten zusammenlaufen. Die Forschung kann damit helfen, “aufzuzeigen, welche sozial erzeugten Lösungen es gibt für Probleme wie die gegenwärtigen finanziellen Ungleichheiten, sowohl in lokalen als auch globalen Kontexten.” Ein schönes Ziel –  auch wenn mir scheint, als vernachlässige es zahlreiche weitere Aspekte, die Ethnologen rund um Kryptowährungen erforschen könnten.

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1 Kommentar zu Bitcoin als revolutionäre Praxis: Ethnografen skizzieren Forschungsagenda

  1. Ja, das vernachlässigt so Einiges, den Bitcoin und seine Nutzer als politisch anzusehen. Nämlich den einfachen Nutzwert, z.B. eine Überweisung günstiger und schneller als bei der Bank zu bekommen. Dazu muss zwar ein Mindestvertrauen (oder Hoffen) in die BTC-Technologie vorhanden sein, aber es wird auch einfach nur abgewägt, ob es einem ein Risiko wert ist, beim Überweisen etwas Geld zu sparen. Wobei man ja beim Bitcoin extrem aufpassen muss, dass der Kurs sich nicht ganz schnell zu meinen Ungunsten verändert, bevor ich in Fiat zurückgetauscht habe. Also sehr kompliziert und Risikoreich für einen armen Afrikaner vom Lande, schätze ich.

    Die einzige Kritik, die man mit Benutzung des Bitcoins am System übt, ist die, dass man höhere Preise kritisiert. Das hat vielleicht eine politische Wirkung, aber nicht unbedingt eine politische Absicht.

    Wahrscheinlich würden unsere Verbraucher auch Milch für 1 Ct. pro Liter kaufen, wenn sie nur den Preis drücken könnten. Die politische Absicht, Milch unter Wert produzieren zu lassen, haben sie aber wahrscheinlich damit nicht. Wenn man nicht weiß, dass Milch jetzt schon viel zu billig ist, um Bauern vernünftig existieren zu lassen, greift man wahrscheinlich immer wieder zum billigsten Angebot im Kühlregal. Ohne damit die Bauern noch weiter unter Druck setzen zu wollen.

    Also solche “Wissenschaftler” biegen sich da wohl so einige Interpretationen zurecht, wenn ich das richtig verstanden habe (und das wäre keine gute Wissenschaft).

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